An den Mistral

[272] Ein Tanzlied


Mistral-Wind, du Wolken-Jäger,

Trübsal-Mörder, Himmels-Feger,

Brausender, wie lieb ich dich!

Sind wir zwei nicht eines Schoßes

Erstlingsgabe, eines Loses

Vorbestimmte ewiglich?


Hier auf glatten Felsenwegen

Lauf ich tanzend dir entgegen,

Tanzend, wie du pfeifst und singst:

Der du ohne Schiff und Ruder

Als der Freiheit freister Bruder

Über wilde Meere springst.


Kaum erwacht, hört ich dein Rufen,

Stürmte zu den Felsenstufen,

Hin zur gelben Wand am Meer.

Heil! Da kamst du schon gleich hellen

Diamantnen Stromesschnellen

Sieghaft von den Bergen her.


Auf den ebnen Himmels-Tennen

Sah ich deine Rosse rennen,

Sah den Wagen, der dich trägt,

Sah die Hand dir selber zücken,

Wenn sie auf der Rosse Rücken

Blitzesgleich die Geißel schlägt, –


Sah dich aus dem Wagen springen,

Schneller dich hinabzuschwingen,

Sah dich wie zum Pfeil verkürzt[272]

Senkrecht in die Tiefe stoßen, –

Wie ein Goldstrahl durch die Rosen

Erster Morgenröten stürzt.


Tanze nun auf tausend Rücken,

Wellen-Rücken, Wellen-Tücken –

Heil, wer neue Tänze schafft!

Tanzen wir in tausend Weisen,

Frei – sei unsre Kunst geheißen,

Fröhlich – unsre Wissenschaft!


Raffen wir von jeder Blume

Eine Blüte uns zum Ruhme

Und zwei Blätter noch zum Kranz!

Tanzen wir gleich Troubadouren

Zwischen Heiligen und Huren,

Zwischen Gott und Welt den Tanz!


Wer nicht tanzen kann mit Winden,

Wer sich wickeln muß mit Binden,

Angebunden, Krüppel-Greis,

Wer da gleicht den Heuchel-Hänsen,

Ehren-Tölpeln, Tugend-Gänsen,

Fort aus unsrem Paradeis!


Wirbeln wir den Staub der Straßen

Allen Kranken in die Nasen,

Scheuchen wir die Kranken-Brut!

Lösen wir die ganze Küste

Von dem Odem dürrer Brüste,

Von den Augen ohne Mut!


Jagen wir die Himmels-Trüber,

Welten-Schwärzer, Wolken-Schieber,

Hellen wir das Himmelreich!

Brausen wir... oh aller freien[273]

Geister Geist, mit dir zu zweien

Braust mein Glück dem Sturme gleich. –


– Und daß ewig das Gedächtnis

Solchen Glücks, nimm sein Vermächtnis,

Nimm den Kranz hier mit hinauf!

Wirf ihn höher, ferner, weiter,

Stürm empor die Himmelsleiter,

Häng ihn – an den Sternen auf!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 272-274.
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